1. Advent (02. Dezember 2012)

Autorin / Autor:
Prälat i.R. Paul Dieterich, Weilheim a.d. Teck [Paul.Dieterich-online.de]

Lukas 1, 67-79

Liebe Gemeinde,
als ich vor zwölf Jahren über diesen Lobgesang des Zacharias zu predigen hatte, lag ein Brief auf meinem Schreibtisch von einem Dekan i.R., der mir schrieb: „Sehr geehrter Herr Prälat, ich erlaube mir, Ihnen mitzuteilen, dass ich mich schäme, der Evangelischen Landeskirche in Württemberg anzugehören.“ Daneben der Brief eines amtierenden Dekans: „Mich und viele andere Kirchenglieder an der Basis quält eine Stimmung zwischen tiefer Trauer und Scham sowie heiligem Zorn. Der Schaden und Ver-trauensverlust, den das Jammerschauspiel im Innern und Äußeren unserer Landeskirche angerichtet hat, ist in seinen Folgen kaum abzuschätzen. Bei kritisch Außenstehenden mischen sich Spott und abfälliges Urteil. Sätze wie ‚Wahnsinn bei Rindern und Kirche‘ tun uns vor Ort sehr weh.“
Was war geschehen? Eine Bischofswahl war geplatzt. Der schließlich noch zur Wahl stehende Kandidat hatte die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit knapp verfehlt.
Schnee von gestern. Es gibt Schlimmeres. Im persönlichen Bereich. Wenn der Tod einbricht. Wenn wir hilflos zusehen müssen. Wenn Familien zerbrechen. Im Betrieb, wenn zig Arbeitsstellen wegrationalisiert werden. Schlimmeres, wenn Feindschaft entsteht. Auch in Kirchengemeinden.
Wenn wir am 1. Advent ein neues Kirchenjahr beginnen, dann nicht in einem heilen Haus, auch nicht in einer heilen Kirche. Unsere Behausungen haben Risse, durch die kalter Wind weht. Erreicht uns in dieser Situation der Lobgesang des Zacharias?
Hier spricht einer, der lang geschwiegen hat, weil er gar nichts mehr sagen konnte. Was mag der Verstummte gefühlt, gedacht haben? Jetzt spricht er, als liege es tief unter ihm. Wie etwas, das keine Rolle mehr spielt.
Er spricht von der Heilung im Perfekt, obwohl Jesus noch gar nicht geboren ist, sondern sich als Embryo im Leib der Maria befindet.

Die Sperre ist gelöst

Es ist wahr geworden, so jubelt er. Es ist ein Faktum, Gott hat „besucht und erlöst sein Volk“. Er ist da. Wir sind weder uns selbst noch anderen ausgeliefert. Er hat und erlöst von allem, was uns so erstarren ließ. Die Sperre ist gelöst. Wir sind weder unseren Ängsten noch unseren Zwängen mehr ausgeliefert. Wir können uns wieder frei bewegen. Kommt, probieren wir es. Leben wir unter dieser Voraussetzung. Dann merken wir erst, wie vernagelt wir waren in unserer starren Selbstgerechtigkeit, in unserer Angst zu kurz zu kommen, in unserer Gruppenideologie, in der Grabenlandschaft, in die wir uns eingegraben hatten. Wir sind sein Volk. Wir sind die „Umgebung“ Jesu. Er mitten unter uns. Wir in seiner Ausstrahlung. Sein Licht fällt auf uns. Sein Geist löst die Fesseln, macht uns lustig, die christlichste aller Sportarten zu üben: über den eigenen Schatten zu springen. Neu anzufangen. Miteinander. Wie Gott mit uns neu anfängt. „Er hat besucht und erlöt sein Volk“, uns. Und „er hat aufgerichtet eine Macht des Heils“, uns, damit wir heil werden.
Das Heil, das mit Jesus auf uns zukommt, ist unwiderstehlich. Wie ein starker Magnet, der uns, unsere Gedanken und Entschlüsse wie Feilspäne neu ausrichtet. Auf ihn, auf die kreative Liebe, die er verkörpert. Auf ein ganz neues Vertrauen.

Der Feind in uns: der schiefe Blick

„Dass er uns errette von unseren Feinden“. Suchen wir unsere Feinde und auch die Feinde unserer Kirche nicht außerhalb von uns, auch nicht in dieser oder jener Interessengruppe. Suchen wir sie in uns! In dem, was an Liebes- und Lebensfeindlichem in uns schwelt, was uns den freien Blick nimmt, was uns unfähig macht, einander zu vertrauen, was uns einander ganz schief sehen lässt. Das ist auch der Feind unserer Ehen, unserer Familien, das zerstört Freundschaften. Dieser schiefe Blick bedroht uns. Dieser Feind muss an den Hörnern gepackt werden.

Als Juden und Christen sein Volk

Diese Zwänge haben kein Recht mehr an uns. Gott selbst hat sich mit uns verbündet. Wir sind sein Volk. Als Juden und als Christen. Schon seit Jahrtausenden. Seit Abraham, dem Vater der Glaubenden. Damals vor gut 4000 Jahren. Gott hat sich mit ihm verbündet. Und mit uns, die wir an ihn glauben. Mit David. Vor gut 3000 Jahren. Und vor allem durch Jesus, seit 2000 Jahren. Durch Jesus, mit dem sich Gott in eins gesetzt hat. In dem er selbst sein Leben für uns eingesetzt hat, damit wir durch seine Ausstrahlung leben. Er hat ihn von den Toten auferweckt, damit seine Osterkräfte alles überwinden, was uns am vollen Leben hindert.

Ich möchte nicht zum Mond gelangen, jedoch zu meines Feindes Tür

Ihm können wir „dienen ohne Furcht“. Ohne die Furcht, zu kurz zu kommen. Ohne die Furcht, unser Gesicht zu verlieren und blamiert dazustehen. Ohne die Furcht, die Fehler, die wir in unserem Leben gemacht haben, könnten uns einholen wie eine nicht bewältigte Schuld. Wir können ihm dienen, ohne dass uns die Sorge lähmt, wir würden alles falsch machen. Sein Geist führt uns. Und wenn wir irren, holt er uns auf die rechte Lebensspur zurück.
Ihm dienen. Ihm. Erkennen, was Er tut. Spüren, was er durch dich und mich jetzt tun will. Er kann uns brauchen. Lassen wir uns von ihm gebrauchen. Von seiner Liebe. „Die Liebe wird uns leiten und mit den Augen deuten auf mancherlei.“ Bestimmt geht es um Menschen, in denen irgendetwas auf uns wartet. Die wir bisher links liegen ließen. Weil sie eine andere Wellenlänge haben, einen anderen Lebensstil, andere Überzeugungen. Menschen, die wir heimlich missachten. Mit denen wir im unter-schwelligen Konflikt leben. Irgendetwas wartet auf ein Zeichen von uns. Auf einen Neuanfang. Jetzt am 1. Advent. Am Neubeginn des Kirchenjahrs. Jetzt wo es auf Weihnachten zugeht. Geben wir dieses Zeichen. Ein kleines Gespräch, das zeigt: Das Eis ist gebrochen. Das Vergangene ist wirklich Schnee von gestern. Es ist bewältigt. „Er richte unsere Füße auf den Weg des Frie-dens.“ „Ich möchte nicht zum Mond gelangen, jedoch vor meines Feindes Tür“, singen wir in einem neuen Lied. Jesus richtet unsere Füße auf den Weg zu dem Menschen, bei dessen Name noch immer etwas in uns zusammenzuckt. Nehmen wir unser Herz in die Hände. Unser Herzklopfen wird belohnt. Denken wir an das Wort: „Gott lässt es den Aufrichtigen gelingen.“
Riskieren wir es, weil das Licht Jesu vor uns aufgeht, weil es durch uns nicht getrübt werden soll. Weil er durch uns Menschen in sein Licht holen will, „die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes“. Wie viele kommen sich vor, als seien sie abgestellt im Warteraum des Todes, wo kein Leben mehr ist. Holen wir sie da heraus! Wir können es, weil Jesus Christus unser Zutrauen belohnt.

Der Zeigefinger des Johannes

Zacharias sieht sein Kind Johannes in der Wiege und sagt in prophetischer Voraussicht: „Du wirst dem Herrn vorangehen, dass du ihm den Weg bereitest.“ Matthias Grünewald hat diesem grandios alternativen Mann einen überdimensionalen Zeigefinger verpasst, der auf den Christus zeigt, in dem sich Gottes kreative Liebe verströmt. Als kulminiere der ganze große Mann nur in seinem Zeigefinger.
Das könnte Ihre und meine Rolle im neuen Kirchenjahr und überhaupt für den Rest unseres Lebens sein: hinweisen auf Ihn. Von uns weg auf ihn, der das Leben verkörpert und der sein Leben hingibt, damit es in uns umso heller und kreativer lebt. Keine Frage, dass auch die es sehen, die vom Glauben an ihn sonst wenig halten. Wir werden ihnen dann selbst eine Art Licht. Das Licht muss nicht „klappern“, damit es gesehen wird. Es genügt, dass es leuchtet. Es leuchtet Menschen heim.
Wie? Nicht, indem wir gern christliche Belehrungen von uns geben, sondern, indem wir auf sie zugehen, ihnen die Hand geben, ihnen zeigen, dass wir mit ihnen etwas anfangen können. Und vor allem: indem wir für sie einstehen. Das spüren sie. Und das überzeugt. So bereiten wir Jesus Christus den Weg zu ihnen. Wir räumen weg, was uneben ist.

In der Ruine kommt Jesus zur Welt

Aber die Landeskirche? Bereitet die Landeskirche ihm den Weg? Tut es Ihre Kirchengemeinde? Wo doch so viel innerkirchlicher und oft genug auch innergemeindlicher Separatismus unsere Gemeinden und unsere Landeskirche blamiert vor den belustigten Augen derer, die uns längst abgeschrieben haben?
Ich denke an einen Mann, den sein Pfarrer dazu gewinnen wollte, für den Kirchengemeinderat zu kandidieren. Der Angefragte hat dem Pfarrer nach kurzem Besinnen gesagt: „Die Landeskirche ist eine Ruine. Ich bin Kaufmann. Ich bin nicht bereit, in eine Ruine so viel Zeit und Kraft zu investieren.“ Den Pfarrer traf diese Antwort wie ein Peitschenhieb.
Wir haben dann Dürers Weihnachtsbilder angesehen. Den Stall von Bethlehem zeichnet er immer als eine Ruine. Da pfeift der Wind durch. Das Dach ist mehr als durchlöchert. Aber der Morgenstern scheint hindurch. In dieser Ruine kommt Jesus zur Welt. Nicht im geschützten Wohnzimmer. Noch weniger im Schlafgemach eines Palastes. Die Ruine kann dann auch schnell wieder zur Baustelle werden. Auch das sehen wir an Dürers Ruinen: Sie sind bereits Baustellen. Es kann was aus ihnen werden.
Walter Kasper, der Kardinal des Papstes für die Einheit der Christen, sagte uns in Rom einmal in der ihm eigenen brüderlichen Freundlichkeit, unsere evangelische Kirche habe eben leider einen „Defekt“ in Sachen Vermittlung des Heils. Ich musste ihm Recht geben, fragte ihn aber doch: Hat nicht jede Kirche ihre sehr spürbaren Defekte, die sie erheblich dran hindern, glaubwürdig das Heil zu bezeugen? Und wäre es nicht ihr schwerster Defekt, wenn sie vor lauter Selbstbewusstsein ihren Defekt gar nicht mehr bemerken würde?

Jesus Christus wirkt durch „defekte“ Christen. Durch dich und mich. Er kann uns brauchen. Und er wirkt durch seine defekten Kirchen. Er wirkt auch durch seine defekte und geliebte Landeskirche in Württemberg. Wir müssen uns auch im neuen Kirchenjahr ihrer nicht schämen, so lange er sich zu ihr bekennt.
Amen.

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