1. Weihnachtsfeiertag (25. Dezember 2012)

Autorin / Autor:
Dekanin Dr. Brigitte Müller, Brackenheim [Brigitte.Mueller@elkw.de]

Johannes 3, 31-36

Liebe Gemeinde,

wir sind wahrhaftig von der Erde: Adam, der Mensch, ist geschaffen aus der Adamah, dem Ackerboden. – So der Autor der zweiten biblischen Schöpfungsgeschichte (1. Mose 2,7).
Die Erde ist dem Menschen zum Schicksal geworden, denn der Schöpfer bindet sein Geschöpf an die Krume und spricht: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden“ (1. Mose 3, 19).
Der Mensch, dem diesen Satz gilt, ist schon vertrieben aus Gottes Garten. Und es ist ihm kein Trost, wenn er hört: Erde zur Erde, Asche zur Asche, Staub zum Staube. Denn er muss diese Worte als Fluch hören.
Das Evangelium spricht uns auf diese irdische Vergänglichkeit an.
Wir kleben am Boden. Und doch ahnen wir, dass es noch etwas anderes geben muss – hinter den Dingen dieser Welt. Aber unsere Wahrnehmung ist begrenzt. Unser Horizont ist eng. Unsere Fantasie beschränkt. Unser Glaube oft allzu bescheiden.
Der Mensch, der „aus dem Paradies gefallen“ ist, misstraut seinem Schöpfer. So wie schon im mythischen Garten Eden, wo er Gottes Gebot übertritt und vom Baum der Erkenntnis isst. Als Gott ihn sucht, versteckt er sich. Als Gott ihn findet, stottert er nur armselige Ausreden zusammen.
So ist das, wenn das Vertrauen zerstört ist. Dann wird der Mensch, der bei Gott geborgen war, heimatlos. „Da wies ihn Gott, der Herr aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war. Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens“ (1. Mose 3,23f.).

DER von oben – kommt nach unten

Doch der Schöpfer des Paradieses schaut herüber über die Mauer, die zwischen Himmel und Erde, oben und unten gezogen ist. Und er sieht, wie die Menschen sich abstrampeln, „dass Gott erbarm!“
Noch einmal setzt er alles Vertrauen in die Menschen und überwindet die Mauer. Er tut es in der Gestalt des Sohnes. Der kommt aus dem ewigen Licht in „die Finsternis“ (Johannes 1,5). Er macht sich die Hände schmutzig. Er kniet sich in den Staub, um seinen Freunden die Füße zu waschen (Johannes 13).

„Er äußert sich all seiner G'walt,
wird niedrig und gering
und nimmt an eines Knechts Gestalt,
der Schöpfer aller Ding, der Schöpfer aller Ding.“ (EG 27,3)

Darin besteht das Zeugnis des Sohnes, das die Menschen nur schwer annehmen können: Gott macht sich klein, er macht sich zum Diener. Wir aber hätten ihn gerne als Herrscher, groß und gewaltig. Es will und will uns nicht gelingen, das Geheimnis zu begreifen, das auch in unserer diesjährigen Jahreslosung steckt: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2. Korinther 12,9).

Das muss man erlebt haben. Für diese Wahrheit muss man empfänglich werden. Tasten wir uns noch einmal in die Geschichte von der Geburt Jesu hinein, die uns Lukas erzählt: Es gibt kaum einen Hörer oder eine Hörerin, die sich ihrem Charme entziehen können.
Der Stall des Lukas mag schmutzig sein und stinken, das Krippenkind ficht es nicht an. Die abgerissenen armseligen Hirten werden zu seinen ersten Aposteln. Seine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Und das fasziniert uns.

Wenn wir uns über ein Kinderbettchen beugen und das Kleine darin anschauen, dann überfällt uns manchmal so etwas wie ein „heiliger Schauer“. Wir bestaunen die kleinen Hände und Füße, das Gesichtchen, das sich so fein verzieht. Und wir hoffen auf ein Lächeln, wo anfänglich ja noch gar keines sein kann.
Und nachts lauschen wir auf den leisen Atem des Kindes und fürchten nichts mehr, als dass er aufhören könnte. Welche Mutter, welcher Vater hätte sich nicht schon besorgt über das dunkle Bettchen gebeugt, wenn das Kind gar zu still war.
Eine Mutter, die ihr Neugeborenes im Arm hält, spürt ihren Anteil an der Schöpfung und ihr Inneres jubelt. Aber sie merkt zugleich, dass die Aufgabe zu groß ist: zu viel Verantwortung für ein anderes Leben! Eltern mit kleinen Kindern wissen, wie sehr sie auf die Kraft und den Segen Gottes angewiesen sind.

Die Ikone: Maria hält den von oben im Arm

Weil uns der Charme dieser Szene so gefangen nimmt, ist die Muttergottes mit dem Kind wohl das beliebteste Andachtsbild überhaupt. Die Ikonen der Ostkirche variieren das Motiv vielfach. Auf dem Bildnis der „Muttergottes der Liebe“ schmiegt Maria ihre Wange an die von Jesus. Die Gottesmutter ist als mädchenhafte junge Frau dargestellt; ihr Gewand zieren goldene Jungfrauensterne, ein Motiv, das sich von der Darstellung altorientalischer Muttergottheiten herleitet. Das Kind auf ihrem Arm oder Schoß ist zwar deutlich kleiner gemalt, gleicht in den Proportionen, der Haartracht und der Kleidung aber eher einem jungen Mann.
Die Ikonen vermitteln nun beides: Die Menschwerdung des Gottessohnes auf Erden und seine himmlische Herkunft , – Hoheit und Niedrigkeit in einem Bild.

„Er kommt aus seines Vaters Schoß
und wird ein Kindlein klein,
er liegt dort elend nackt und bloß
in einem Krippelein , in einem Krippelein.“ (EG 27,2)

Diese Liedstrophe von Nikolaus Herman (1560) folgt der Erzählung des Evangelisten Lukas, der von der Geburt im Stall erzählt.
Die Ikonen der Ostkirche folgen aber eher den Vorstellungen des Evangelisten Johannes, der uns Jesus als den göttlichen Sohn vorstellt, dem auch der Staub der Erde nichts von seiner göttlichen Herrlichkeit nehmen kann.
Das Gewand des Kindes der Ikonen ist goldfarben oder mindestens golddurchwirkt. Gold repräsentiert den göttlichen Lichtglanz, ein unstoffliches, abstraktes Licht, das in die Welt hineinleuchtet, aber nicht in ihr aufgeht oder von der Stofflichkeit der Erde verschluckt wird.
Der Hintergrund auf dem Jesus dargestellt ist, ist immer golden. Denn der Sohn ist „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater.“ (Aus dem Nizänischen Glaubensbekenntnis)

Weihnachten: Christus – die Liebe Gottes, der seine vergängliche Welt in Händen hält

Weihnachten geht also nicht auf im Idyll eines Stalles mit freundlichen oder polternden Hirten. Weihnachten ist mehr als das Fest eines niedlichen Kindes.
Weihnachten ist das Fest des Schöpfers, der seine ganze Schöpfung retten will: Denn „der Vater hat den Sohn lieb und hat ihm alles in seine Hand gegeben.“
Und so kommt der Sohn und mit ihm die Fülle des Paradieses: In Kana fließt der Hochzeitswein im Überfluss. 5000 Leute werden satt von fünf Broten und zwei Fischen. Und es ist noch Brot übrig – zwölf Körbe voll. Der Freund Lazarus stirbt in Bethanien. Und nach drei Tagen ruft Jesus ihn zurück ins Leben.
Der Schöpfer selbst ist in der Gestalt des Sohnes unter den Menschen unterwegs. Und unter seinen Händen und Füßen verwandelt sich die Erde immer wieder für Augenblicke der Ewigkeit in ein Paradies.
Und doch geht der Gottessohn auch den Weg der Verfluchten. Er wird verhaftet, verspottet und ans Kreuz geschlagen. „Es ist vollbracht“, spricht er, als er an diesem Tiefpunkt des menschlich Unmenschlichen angekommen ist (Johannes 19,30).
Warum Gott in Jesus das alles auf sich nimmt, dafür gibt es keine andere Erklärung, als die Liebe des Schöpfers zu seinem Geschöpf: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzig geborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Johannes 3,16). Darum schmiegt das Kind auf der Ikone seine Wange zärtlich an das Gesicht der Mutter. Und Maria wendet sich dem Kind liebevoll zu. Aber das Kind ist nicht nur ihr Kind.
Es ist Gottes Sohn, der die Menschen im Wein die Ewigkeit schmecken lässt. Es ist Gottes Sohn, der die Hungrigen satt macht. Es ist Gottes Sohn, der die Toten aus den Gräbern ruft und ihnen die Tür zum Paradies öffnet.
Weihnachten will uns locken, die Spuren des Sohnes auf Erden zu suchen. Weihnachten will uns zum Vertrauen auf Gott und zur Liebe anstiften.

„Heut schließt er wieder auf die Tür
zum schönen Paradeis;
der Cherub steht nicht mehr dafür.
Gott sei Lob, Ehr und Preis,
Gott sei Lob, Ehr und Preis.“ (EG 27,6)

Amen.

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