Judica / 5. Sonntag der Passionszeit (17. März 2013)
Pfarrer PD Dr. Peter Haigis, Springe [peter.haigis@kloster-wuelfinghausen.de]
Johannes 11, 46-53
Liebe Gemeinde,
eine unbehagliche Sitzung war das, zu der der Hohe Rat damals zusammenrief. Dieser Jesus war ein öffentliches Ärgernis: „Er maßt sich an, im Namen Gottes zu sprechen. Er verstößt gegen grundlegende Gebote, zum Beispiel missachtet er den Sabbat. Außerdem bringt er Unruhe unter das Volk. Er schädigt den Ruf unserer alt hergebrachten religiösen Traditionen. Und möglicherweise gefährdet er am Ende die letzten Reste unserer Selbstbestimmung gegenüber der römischen Besatzungsmacht.“
Jesus zog offenbar die Massen an. Er begeisterte die Menschen. Er bewirkte etwas unter ihnen. Er tat Zeichen, die ihn ausweisen könnten als einen von Gott gesandten Propheten oder gar als den verheißenen Heilsbringer.
Was sollte man nun also tun als religiöse Ordnungsmacht? Vergreift man sich an Jesus, vergreift man sich möglicherweise an Gott. Andererseits, lässt man ihn gewähren, so wird es im Land bald drunter und drüber gehen. Jegliche Ordnung wird auf den Kopf gestellt. Kann das Gottes Wille sein?
Was also tun? – Eine höchst unangenehme Entscheidung.
Eine „politische“ Entscheidung
Da hat einer eine Idee: Kaiphas, seines Zeichens der Hohepriester und Vorsitzender des Gremiums. Er weiß einen Rat.
Ich verstehe Kaiphas im Arrangement der Erzählung bei Johannes weniger als historische Persönlichkeit und mehr als eine dramatische Figur. Er verkörpert hier den Typus des kühl und klar abwägenden Ordnungspolitikers. Er verfolgt eine politische Strategie, handelt nach politischer Räson – ähnlich wie Kreon in der „Antigone“ des Sophokles. So will ich die Figur des Kaiphas hier verstehen, so will ich seinen Rat beurteilen.
„Was wisst ihr schon?“ hält er der Versammlung entgegen. „Was macht ihr euch für Gedanken?“ Und dann bringt er es auf den Punkt: „Besser einer für alle als umgekehrt!“ Besser, einer geht als wir alle. Einer muss sich geopfert werden – für das Wohl aller, für das Wohl des ganzen Volkes.
Wie klug – aus Sicht der politischen Räson, aus Sicht der Ordnung. Einer geht und die Rechnung geht auf. Einer nur – das lässt sich doch riskieren. Das sagt einem doch auch der gesunde Menschenverstand. Da muss man eben abwägen.
„Ein Staat darf sich von Geiselnehmern nicht erpressen lassen – und koste es das Leben der Geisel.“ – „Einer für alle“, sagt Kaiphas und fordert ein bescheidenes Opfer.
„Der Betrieb darf nicht stillgelegt werden – und koste es die Stellen einiger weniger Arbeitnehmer.“ – „Einer für alle“, ruft Kaiphas und fordert ein angemessenes Opfer.
Das sind Zwangssituationen, ethische Zwickmühlen; da kommt man anders nicht heraus.
So redet der gesunde Menschenverstand. Aber das Gewissen deckt die subtile Logik der Opferforderungen auf: Opfer bleibt Opfer – auch auf dem Weg des kleineren Übels. Und das bedeutet: einige wenige oder ein einzelner kommt nicht zu ihrem Recht zugunsten der vielen. Hier soll einer mit seinem Leben bezahlen zugunsten der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des politischen Friedens für alle.
Näher betrachtet hat der Vorschlag des Kaiphas immer zwei Perspektiven. Darüber kann kein Zahlenspiel hinwegtäuschen. Die Perspektive der Täter steht gegen die Perspektive der Opfer. Leben steht gegen Leben – und das endet immer tödlich.
Und dennoch: Wer kann einen besseren Rat geben als Kaiphas?
Wenn ein Amokschütze eine Gruppe von Menschen bedroht – ist es nicht besser, ihn zu töten, um das Leben vieler Unschuldiger zu retten? Wenn eine Handvoll Terroristen eine ganze Stadt in Atem hält – ist es nicht besser, sie zu töten, um viele zu befreien? Wenn ein Diktator ein ganzes Volk ins Verderben führt – ist es nicht besser, ihn zu beseitigen, um alle zu erlösen?
Leben gegen Leben
Als ich als junger Mann den Wehrdienst verweigert habe, hat man uns Verweigerern gerne derartige Fangfragen gestellt. Wer sich hier auf das ethische Prinzip der Gewaltlosigkeit verlässt, hat schon verloren. Wer hier das fünfte Gebot „Du sollst nicht töten“ geltend machen will, hat es schon gebrochen. Ethische Zwickmühlen! Da gerät das Gewissen ins Schleudern.
Die Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 haben lange Zeit mit dieser Frage gerungen, sie als Gewissenskonflikt mit sich herumgetragen, aber lösen konnten sie ihn nicht. Dietrich Bonhoeffer, der selbst am Widerstand gegen das tyrannische Hitler-Regime beteiligt war, wusste um die Tragik solcher ethischer Zwickmühlen. Wie wir uns auch verhalten mögen – wir bleiben schuldig. Halten wir stille und bleiben untätig, werden wir schuldig an den beste-henden Verhältnissen. Wollen wir sie mit Gewalt verändern, werden wir schuldig am Leben derer, die diese Gewalt tötet.
Steht Leben gegen Leben, so haben wir nur noch die Wahl zwischen Schuld und Schuld. Da hilft kein Rechnen. Bonhoeffer hat dies klar erkannt.
Freilich, Jesus war kein Tyrann und kein Diktator. Er hat – anders als Geiselnehmer oder Amokschützen – niemandes Leben bedroht. Doch das macht die Situation, in der der Hohe Rat steht, samt der Entscheidung, die er fällt, nur noch kritischer.
Selbst wenn man die geäußerte Sorge vor dem Niedergang der öffentlichen Ordnung ernst nimmt, bleibt am Ende auf der gegenüberliegenden Seite des kühlen Kalküls eines Kaiphas der Tod eines Unschuldigen, also ein Opfer im klassischen Sinn.
Bisher haben wir nur Kaiphas gehört mit seiner Opferforderung. Wo bleibt Jesus? Hat er dem, was hier geschieht, nichts entgegenzuhalten? Aber Jesus kommt hier, in unserem Text, ja nicht einmal aktiv vor. Er bleibt Opfer. Er ist Objekt, auch sprachlich. Über ihn wird verfügt.
Bleibt also Kaiphas mit seinem Rat im Recht? Ist dies schon der Weisheit letzter Schluss?
Ein anderer hat die Fäden in der Hand
Der Evangelist Johannes lässt die Geschichte so nicht stehen. Er erlaubt sich einen Kommentar, der über die Erzählebene hinausweist. Für einen kurzen Augenblick hält er das Geschehen auf der von ihm bereiteten Bühne an und betritt selbst das Szenarium.
Zwar spricht Kaiphas Jesus das Urteil. Doch in Wirklichkeit hat Gott die Fäden in der Hand. Kaiphas weiß im Grunde gar nicht, was er da sagt. Sein Rat hat einen doppelten Boden. Jesus – so fügt Johannes an – wird wirklich „für“ das Volk sterben. Aber nicht anstelle des Volkes, wie es Kaiphas rät, sondern zugunsten des Volkes. Die Opferlogik des Kaiphas geht also nicht auf: Nicht einer für alle, heißt es in der Adlerperspektive des Evangelisten Johannes, sondern einer allen zuliebe.
Dies ist es, was Kaiphas nicht wusste und nicht wissen konnte: Der Tod Jesu ist gar kein Jus-tizmord. Jesus starb, damit wir leben.
Doch wie ist das möglich? Wie können wir vom Tod eines anderen leben?
Hingabe statt Opfer
In Jesus ist Gott den Weg des wahren Lebens, den Weg der Liebe gegangen. Dass unsere Welt eine Welt unschuldiger Opfer ist, eine Welt des Unrechts und Leids, auch eine Welt wirklicher und vermeintlicher ethischer Zwickmühlen – all das hat Gott nicht gehindert, uns Menschen nachzugehen in unserem Unheil und teilzunehmen an dieser unbehaglichen Welt.
Sollte Gott dies nötig haben? Was kümmert ihn unsere Welt? Und doch wendet er sich in seiner Liebe uns Menschen zu. Gott überlässt uns Menschen nicht unserer Selbstzerstörung. Un-seren Opferforderungen aus Gründen politischer Räson hält er etwas anderes entgegen: seine Hingabe aus Liebe.
„Wenn ihr mich sucht, dann lasst meine Jünger gehen“, sagt Jesus bei seiner Verhaftung im Garten Gethsemane. Er hält den Kopf für sie hin. Das ist Hingabe. Und Hingabe ist kein Opfer. Jesus fügt sich nicht einfach einem übermächtigen Geschick. Er lässt sich nicht zum schwächlichen, wehrlosen Opfer machen, das alles erdulden muss, was ihm zugefügt wird.
Jesus gibt sich hin. Er verzichtet auf seine Macht, sich auch wehren zu können. Er verzichtet auf sein Recht. Er schlägt nicht zurück. Er flieht nicht, sondern er liefert sich aus – aus Liebe für andere, und zwar – wie der Evangelist sagt – nicht nur für das ganze Volk, sondern für die verstreuten Kinder Gottes.
Die Strategie der Hingabe durchkreuzt die Strategie der Opferforderung.
Das ist Jesu Größe! Aus der Position der Stärke auf diese Stärke zu verzichten, um anderen Leben und Freiheit zu schenken. So ist Gott! Der „Philipperhymnus“ führt uns dies vor Augen. Das Symbol des Kreuzestodes Jesu will es uns zeigen, wie sehr Gott die Menschen liebt.
Warum aber dient dieser Tod zum Leben?
Die Liebe Gottes ist stärker als der gewaltsame Tod: Befreiung für schuldige Menschen
Wenn wir über die Passion Jesu, über sein Leiden und Sterben hinausblicken, so wissen wir, dass der gewaltsame Tod über die Liebe Gottes in Jesus keine endgültige Macht hat. Trotz dem Rat des Kaiphas bleibt Jesus nicht im Grab.
Das ist die Perspektive göttlicher Verheißung: Schuld ist als Schuld zu benennen. Kaiphas ist mit seinem Rat schuldig geworden am Tod eines Unschuldigen. Seine Opferlogik schafft die Schuld nicht aus der Welt, sondern bringt neue Schuld hervor. Doch aus der Schuld führt ein Weg der Befreiung. Gott liebt uns Menschen trotz unserer Schuldverstrickungen. Und wir lernen an ihm, uns trotz Schuld und Versagen gegenseitig anzunehmen – uns vergebend zu ertragen. Wo nicht das Gesetz der Vergeltung, sondern der Grundsatz der Vergebung gilt, da ist Leben statt Tod.
Amen.
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