Letzter Sonntag nach Epiphanias (20. Januar 2013)
Pfarrerin Barbara Vollmer, Bad Wurzach [barbara.vollmer@elkw.de]
Johannes 12, 34-36
Liebe Gemeinde,
ja, wer ist eigentlich dieser Menschensohn? Diese Frage, die die Menschen damals an Jesus richten, könnten vermutlich die meisten von uns aus vollem Herzen mitsprechen. Wer ist eigentlich dieser Menschensohn?
Mit Johannes können oder müssten wir antworten: das ist der Christus. Nicht einfach Jesus von Nazareth, der in Bethlehem geboren wurde, sondern der Mensch, der am Kreuz gestorben ist – ja vielmehr noch (wie Paulus sagt), der auch auferstanden ist. Das ist der erhöhte Menschensohn. Der Mensch, der – so lesen wir es in den ersten Zeilen des Johannesevangeliums – vor allen Zeiten schon mit Gott existiert hat und zu ihm zurückkehrt. Der Christus, dessen Wiederkunft als Weltenrichter und Heilsbringer wir am Ende der Tage erwarten.
Der Menschensohn – wahrer Mensch und – fast möchte man sagen: mehr noch - wahrer Gott - so zeichnet Johannes sein Jesusbild. Heiland, Richter und Retter der Welt.
Und in weiten Teilen deckt sich seine Vorstellung mit den jüdischen Vorstellungen: Der Menschensohn wird auch dort erwartet als Richter und Heilsbringer. Allerdings ist in der jüdischen Vorstellung keine Rede davon, dass der Messias kommt und geht und wiederkommt. Deshalb die Irritation im Volk (Vers 34): “Wir haben aus dem Gesetz gehört, dass der Christus in Ewigkeit bleibt.“ Mit anderen Worten: Wir haben in unseren heiligen Schriften gelesen, dass der Messias ein für alle Mal kommt: Wieso sagst du dann, der Menschensohn muss erhöht werden? Wer ist dieser Menschensohn?
Der Menschensohn – ein Leidender, ein Prophet, ein Lehrer, ein Sozialkritiker?
Ja, wer ist dieser Menschensohn?
Menschen um Jesus waren damals gezwungen, sich auf diese Frage einen Reim zu machen.
War Jesus nun der Messias? Aber warum kündete er dann sein Leiden an, warum sprach er davon, dass er, das Licht der Welt, nur noch kurze Zeit da sein würde?
War er also nur ein Vorläufer – wie schon Johannes der Täufer; War er der wiederkehrende Elia?
War er ein radikaler Lehrer und Prophet, der mit dem, was er sagte, die Missstände seiner Zeit aufdeckte: ie Lieblosigkeiten, soziale Ungerechtigkeiten, bigotte Selbstgerechtigkeit?
Sicher war er einer, der darauf bestand, dass Menschen sich auf Gott besinnen sollten. Er forderte dazu auf, mit Gott in Beziehung zu treten – und das hieß für ihn in der Konsequenz: die Nächsten in den Blick zu nehmen; gnädig und barmherzig zu sein, aufrichtig und authentisch (wie man heute sagt)und vor allem mitmenschlich.
So gesehen, war Jesus wirklich ein Lehrer und ein Vorbild – aber das waren andere auch.
Für manche Menschen seiner Zeit war Jesus mehr als das. Für Johannes, wie gesagt: wahrer Mensch und wahrer Gott. Für Paulus: Erlöser und Versöhner. Für Martha von Bethanien, der Christus.
Und das, obwohl sein Tod am Kreuz alle gängigen Vorstellungen vom wahren Messias (im wahrsten Sinne des Wortes) durchkreuzte: "Verflucht ist, wer am Kreuze hängt"– wie kann so einer der Messias sein, der Retter der Welt? Wie kann einer, der stirbt und von der Erde geht der für ewig erwartete Friedensstifter sein? Wie kann der, dem Gott nicht hilft, Gottes Sohn, wie kann er Gott selbst sein?
Vernünftige Gründe lassen sich dafür kaum anführen, und doch gab es Menschen, die davon überzeugt waren, dass Jesus der Christus ist. Menschen, die sich davon überzeugen ließen. Menschen, die von ihm überzeugt waren. Menschen, auf die sein Licht gefallen sein muss und die danach nicht mehr im Finstern tappen wollten.
Diese Menschen haben ihre Überzeugung, sie haben ihren Glauben und ihre Hoffnung in die Welt hinaus getragen und von dem Licht weiter gegeben, das ihnen erschienen ist. Wegen ihnen - jedenfalls auch wegen ihnen - sind wir heute Christen.
Wer ist Jesus nicht an und für sich, sondern für mich?
Und wie sie damals, stehen wir auch heute vor der Frage: Wer ist Jesus für mich?
Und wahrscheinlich gibt es viele Antworten auf diese Frage. Manchen von uns ist er Lehrer und Vorbild. Manche werden von ihm zum politischen Denken angeregt: wenn es um soziale Fragen geht, um Ausgrenzung von Fremden, Minderheiten, Verachteten, kann man bei ihm fündig werden. Nicht nur zur Friedenspolitik finden wir bei ihm Anregungen und auch Zumutungen, auch die Frage nach dem, was wirklich zählt, stellt er radikal. So kann man mit Jesus in eine intensive Innerlichkeit gehen, oder ganz aktiv und karitativ nach außen.
Die Unterbrechung
Ja, soweit war ich mit meiner Predigt an einem Freitagnachmittag eben gekommen, da kam ein Anruf. Am andern Ende ein Mensch, der mich um Geld bat. Kurz vor dem Wochenende sei das Geld ausgegangen und nun wolle er am Wochenende doch auch was zu essen. Und er sei an mich verwiesen worden, er sei ja evangelisch. Und nun solle ich ihm doch Geld über-lassen, damit er einkaufen könne. Vom Tafelladen in unserer Stadt hatte er noch nichts gehört. Aber das würde heute auch nichts nützen. Der hat nur mittwochs geöffnet.
Das ist mal wieder typisch, denke ich: Freitagnachmittag. Keine Chance irgendeine Einrichtung zu erreichen, die gezielter und vielleicht besser helfen könnte.
Außerdem: Geld für Essen? Ich hatte schon mehr als einmal mit Geld ausgeholfen und kein gutes Gefühl dabei gehabt. Geld für Essen; Geld für die Stromrechnung, damit nicht abgedreht wurde - am Ende war es meistens Geld für Alkohol und Nikotin.
Das will ich nicht unterstützen. Und andererseits: wer bin ich, jemanden vorzuschreiben, wofür er sein Geld ausgibt? Sein Geld, denke ich als nächstes? Das Geld der Kirchengemeinde. Soll das in Alkohol investiert werden?
Ach, ich finde es schwierig, vertröste meinen Anrufer auf später, bespreche mich mit einem Kollegen und der Kirchenpflegerin und beide finden, dass Sachspenden angemessen wären.
Also werde ich nochmals anrufen und sehen, was daraus wird. Wer wirklich in Not ist, wird sich darauf einlassen.
Wer ist wirklich in Not? Jemand der hungert? Jemand, der seinen Lebensfrust in Alkohol ertränkt? Jemand, der zu einer Lüge greift, um an Geld zu kommen?
Ich bin ganz unglücklich mit diesen Gedanken und fühle mich ratlos und schlecht und eigentlich, eigentlich wollte ich eine Predigt schreiben.
Über den Menschensohn und die Innerlichkeit, in der ihn manche suchen. Oder über das soziale Handeln, das wir aus seinen Worten und seinen Taten ableiten, wenn wir ihm folgen wollen. Ja, und wenn der Anruf nicht gekommen wäre, dann hätte ich das vermutlich mir und Ihnen schön geredet, liebe Gemeinde. Aber so?
Wie war das jetzt mit „ganz karitativ nach außen“? Und wie ist das mit innerlicher Jesusseligkeit, wenn mich der Alltag so eiskalt einholt, mit Arbeitslosigkeit und Hartz IV und vermutlich Alkohol als Bodensatz des ganzen Elends?
"Da sprach Jesus zu ihnen: Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht.
Glaubt an das Licht, solange ihr's habt, damit ihr Kinder des Lichtes werdet. Das redete Jesus und ging weg und verbarg sich vor ihnen."
Jesus: Licht in unordentlicher Welt
Komisch, vorher fand ich das eine ziemlich abgehobene Antwort auf die Frage der Menschen nach dem Menschensohn. "Wer ist der Menschensohn?“ fragen sie. Und in der Antwort bedient sich Jesus einer ganz anderen Begrifflichkeit. Vom Licht spricht er, und meint offensichtlich sich. Johannes hat es ihm so in den Mund gelegt. Vorher fand ich das befremdlich.
Und jetzt, jetzt kann ich dieser Antwort etwas Tröstliches abgewinnen. Und Wahrheit auch. Ja, es stimmt, die Welt ist nicht in Ordnung um uns her. Viele stehen im Licht, aber immer mehr stehen gewaltig im Schatten. Wirtschaftlich betrachtet jedenfalls. Vielen geht es gut, und doch wird unsere Gesellschaft ärmer. Auch an Perspektiven - und wenn materielle Not schlimm ist, ist die Aussichtslosigkeit vielleicht noch schlimmer. Sie bringt Verzweiflung mit sich. Und – ohne die materielle Not klein zu reden: Verzweiflung kann jeden treffen.
Not, Verzweiflung, Ungerechtigkeit und Schattenseiten gehören zu unserem Leben. Wenn es nicht so wäre, warum hätten die Menschen dann einen „Menschensohn“ herbeigesehnt? Einen Messias, der die Not nicht nur lindert, sondern heilt; einen Richter, der für Gerechtigkeit sorgt? Für wirkliche Gerechtigkeit?
Dieser Messias ist gekommen. Johannes nennt ihn Menschensohn, er nennt ihn auch Licht. Und er verweist auf die Kostbarkeit seiner Gegenwart. Solange er da ist, ist es Licht. Solange er da ist, kann man seine Schritte setzen und sehen, wohin man geht. Solange er da ist, kann man dies Licht in sich aufnehmen und kann es auch wieder ausstrahlen. An andere, in die Welt. Solange es da ist, kann man froh werden, und Hoffnung schöpfen und der Verzweiflung wehren.
Solange es da ist, das Licht…
„Wenn Du der Menschensohn bist, wenn das Licht, warum bleibst du dann nicht, wie es versprochen wurde?“ fragen die Menschen ihn. Dass Jesus nicht mehr leibhaftig unter uns ist, das ist durchaus irritierend. Was hilft es denn den Menschen, an einen zu glauben, der nicht greifbar ist und nichts bewirkt?
Ist die Welt seit Jesus gerechter geworden? Ist die Not verflogen? Nein.
Der Menschensohn Jesus – wo er eingelassen wird, wird’s wirklich heller
Doch! – Doch!
Überall dort, wo das Licht, wo der Menschensohn Einlass findet, da ist es heller. Es gibt bitterarme Menschen, die verzweifeln müssten und es nicht tun, weil sie ihm vertrauen. Es gibt Sterbenskranke, die sich ihm anvertrauen und getrost sind. Es gibt Menschen, denen der Boden unter den Füßen wankt und die nicht zugrunde gehen, weil sie sich an ihn halten.
Nun bin ich also doch noch beim Schönreden gelandet? Ich glaube nein, liebe Gemeinde. Ich rede nichts schön. Sterben ist nicht schön und arm sein auch nicht. Verzweiflung wünscht sich kein Mensch.
Aber ich rede davon, dass Menschen in Schwerstem gehalten, getragen und geführt werden, wenn sie sich an das Licht halten, das Gott uns in die Welt gesandt hat: Wenn sie die Frage „Wer ist Jesus für mich?“ für sich so beantworten: Jesus Christus ist für mich der Menschensohn, meine Hoffnung, mein Heil, mein Licht.
Amen.
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