Quasimodogeniti (07. April 2013)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Kathrin Nothacker, Wien [Kathrin.Nothacker@elkw.de]

Markus 16, 9-20

Liebe Gemeinde,

eigentlich hat es allen die Sprache verschlagen. Was den Jüngerinnen und Jüngern an Karfreitag und Ostern widerfahren ist, hat sie sprachlos gemacht. Von dieser Sprachlosigkeit berichten jedenfalls die ersten und ältesten Berichte über Ostern. Von den Frauen, die am leeren Grab stehen, wird erzählt: „Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemand etwas; denn sie fürchteten sich“
(Mk 16,8).
Auch uns Christen könnte es an diesem ersten Sonntag nach Ostern die Sprache verschlagen, wenn wir mit den Juden an den Yom ha Shoa, den Holocaust-Gedenktag, der mit unserem Sonntag Quasimodogeniti zusammenfällt, denken. In Israel ist dieser Tag mit einem sehr eindrücklichen Erleben verbunden. Im ganzen Land ertönen für zwei Minuten die Sirenen und aller Lärm verstummt, der Verkehr steht still, die Menschen verharren stumm und in Gedenken an dem Ort, an dem sie gerade sind. Wenn in Israel an die Shoa gedacht wird, breitet sich Stille aus. Und in der Stille wird Furcht und Schrecken, Entsetzen und Sprachlosigkeit über das, was vor vielen Jahrzehnten geschehen ist, mit Händen greifbar.

„Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen“ – so endet das älteste Evangelium, das uns die Geschichte von Jesu Leben und Sterben und sein Auferstehen übermittelt. Aber kann das der Schluss sein?
Etliche Zeit später haben andere Christenmenschen gesagt: Nein, da fehlt noch etwas. Und sie haben die Geschichte weitererzählt, was den Jüngerinnen und Jüngern und vielleicht auch auch uns – bis auf den heutigen Tag widerfahren ist und widerfährt.

Der Predigttext aus Markus 16, die Verse 9 bis 20, lautet:

Als aber Jesus auferstanden war früh am ersten Tag der Woche, erschien er zuerst Maria von Magdala, von der er sieben böse Geister ausgetrieben hatte.
Und sie ging hin und verkündete es denen, die mit ihm gewesen waren und Leid trugen und weinten.
Und als diese hörten, dass er lebe und sei ihr erschienen, glaubten sie es nicht.
Danach offenbarte er sich in anderer Gestalt zweien von ihnen unterwegs, als sie über Land gingen.
Und die gingen auch hin und verkündeten es den andern. Aber auch denen glaubten sie nicht.
Zuletzt, als die Elf zu Tisch saßen, offenbarte er sich ihnen und schalt ihren Unglauben und ihres Herzens Härte, dass sie nicht geglaubt hatten denen, die ihn gesehen hatten als Auferstandenen.
Und er sprach zu ihnen: Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur.
Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.
Die Zeichen aber, die folgen werden denen, die da glauben, sind diese: in meinem Namen werden sie böse Geister austreiben, in neuen Zungen reden,
Schlangen mit den Händen hochheben, und wenn sie etwas Tödliches trinken, wird's ihnen nicht schaden; auf Kranke werden sie die Hände legen, so wird's besser mit ihnen werden.
Nachdem der Herr Jesus mit ihnen geredet hatte, wurde er aufgehoben gen Himmel und setzte sich zur Rechten Gottes.
Sie aber zogen aus und predigten an allen Orten. Und der Herr wirkte mit ihnen und bekräftigte das Wort durch die mitfolgenden Zeichen.


Nun also haben sie doch die Sprache wiedergefunden, man möchte sagen: Gott sei Dank! Denn wenn dieses Wunder nicht geschehen wäre, wären wir heute allesamt nicht hier: Gott sei Dank haben die Jüngerinnen und Jünger die Sprache wiedergefunden und sind ausgezogen und haben gepredigt an allen Orten. Ostern ist also nicht nur ein Auferstehungswunder. Ostern ist auch ein Sprachwunder.
Die Erfahrung wird vielen von uns nicht fremd sein, dass Leid und Trauer stumm machen. Ein geliebter Mensch stirbt und ganz vieles von dem, was mit ihm das Leben lebenswert gemacht hat, stirbt mit. Und weil für die anderen das Leben weitergeht, gesprochen, gesungen, gelacht und geweint wird, für einen trauenden Menschen aber das Leben so radikal unterbrochen wurde, werden viele stumm und finden nur schwer zurück in den Alltag. Manche Menschen verlieren auch buchstäblich nach erlittenem Leid die Sprache.*

Hanns-Josef Ortheil erzählt in seinem Buch „Die Erfindung des Lebens“ von einer Mutter, die durch den Tod von vier Söhnen im Zweiten Weltkrieg aufhörte zu sprechen. Auf den letzten Sohn, Johannes, überträgt sich diese Sprachlosigkeit. Ohne dass er das Leid, das der Mutter widerfahren ist, genau kennt, überträgt sich die Stummheit und der Junge verweigert es zusammen mit der Mutter, in das Leben der Sprechenden einzutauchen.
Dass erfahrenes Leid buchstäblich sprachlos macht, davon berichten Freiwillige, die in einem Altenheim in Israel gearbeitet haben, in dem auch viele Holocaust-Überlebende wohnten. Ein deutsches Ehepaar, das durch die Hölle der Konzentrationslager gegangen ist und als einzige der ganzen Familie überlebt hatte, hörte nach der Befreiung aus dem Lager auf, deutsch zu sprechen. Mühsam erlernten sie eine neue Sprache, um nur nie wieder ein Wort in der Sprache derer über die Lippen bringen zu müssen, die sie gequält hatten.
Abgestorbene Hoffnung, abgebrochenes Leben, zerstobene Träume – das muss auch die Gefühlslage der Jüngerinnen und Jünger nach Jesu gewaltsamem Tod gewesen sein. Mit seinem Sterben am Kreuz ist so vieles, ja eigentlich alles verloren gegangen: Zuwendung und Liebe für alle, auch für die ganz am Rande, Gerechtigkeit für die Armen, Frieden in einer friedlosen Welt, die Hoffnung auf Gottes Reich in dieser Welt.

Aus der Sprachlosigkeit zum Glauben

Und dann war da das leere Grab und die Botschaft der Engel: „Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier“ (Mk 16,6).
Offenbar hat es die Menschen nicht gleich glücklich und hoffnungsfroh gemacht, sondern erst einmal das Gegenteil bewirkt. Aber die Botschaft von der Auferstehung scheint dann doch langsam in die ersten Jüngerinnen und Jünger hineinzusickern. Es ist wie ein langsames Wachsen des Glaubens. Kein Bekehrungserlebnis, das von oben nach unten durchschlägt und fortan ein festes Datum hat, sondern ein Wachsen und Reifen des Glaubens, dass Jesus lebt und Gott einen neuen Anfang gesetzt hat mit der Auferweckung Jesu von den Toten.
Und für dieses Auferstehungserlebnis und für das Reifen der Auferstehungswahrheit braucht es Zeit und Begegnungen mit Menschen, die von ihrem eigenen Erleben, ihrem Hoffen und Bangen, ihrem Zweifel und ihrem Glauben erzählen.
Und dann geschieht das Wunder: Sie finden die Sprache wieder. Vielleicht ist es besser zu sagen: Die Sprache wird ihnen wieder geschenkt. „Sie zogen aber aus und predigten an allen Orten.“ Das Auferstehungswunder ist eine Sprachwunder. Wie das geschehen ist, kann niemand sagen. Die Bibel beschreibt die Auferstehungserfahrung, die Wiedererlangung der Sprache jedoch als ein eindruckvolles und überaus überwältigendes Geschehen. Und es mündet in den großen Schluss, dass nun sogar aller Welt und aller Kreatur das Evangelium, die gute Nachricht, dass Jesus lebt und mit ihm all das, was er in die Welt gebracht hat, dass es sich ausbreitet und laut werden darf.

Johannes, der stumme Junge in Ortheils Roman, erarbeitet sich die Sprache und Sprechfähigkeit zusammen mit seinem Vater, der zunächst seinem Sohn nichts anderes als große Liebe und uneingeschränkte Zuwendung schenkt. Und dann erschließt sich für den Jungen im steten Gegenüber zum Vater die Welt, ein Kosmos aus Landschaften und Gewässern, Bäumen und Pflanzen, und viel Musik. Sie ist es am Ende ganz besonders, die zu dieser Welterschließung und Sprachfindung verhilft. Es ist eine langsame stetige Auferstehungserfahrung, die der einst stumme Junge erlebt.
Reden zu können von dem, was einem widerfahren ist an Gutem und Bösem, an Schönem und Schweren ist nichts Selbstverständliches, sondern am Ende ein großes Geschenk. Reden zu müssen von dem, was einen bewegt und zu dem macht, was man ist, ist aber auch ein großer Auftrag. Den bekommen die Jüngerinnen und Jünger von Jesus übertragen. „Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur.“ Das heißt vielleicht auch: Werdet und bleibt nicht stumm angesichts von persönlichen und gesellschaftlichen Leiderfahrungen. Erzählt euch von Neuanfängen und von Auferstehungserlebnissen mitten im Alltag. Haltet es fest und sagt es weiter, dass das Leben gegen allen Anschein doch den Sieg davon trägt. Und bestärkt euch darin, dass das Evangelium weitergetragen werden muss, weil es neue und weite Horizonte erschließt und weil es letztlich Menschen frei macht.

Ostern bricht sich Bahn – auch durch die Sprache

Auferstehung erfahren heißt: die Sprache wiederfinden und mit der wiedergefundenen Sprache die Botschaft weitergeben, dass Gott ein Gott der Lebenden und nicht der Toten ist und ein leidenschaftlicher Freund des Lebens.
Nicht allen Menschen, die das Grauen des Holocaust überlebt haben, war es gegeben, wieder die Sprache zu finden. Und doch gibt es viele Menschen, denen dies geschenkt wurde und die sogar in der deutschen Sprache, der Sprache der Verfolger und Mörder, wieder eine Heimat gefunden und dadurch Brücken geschlagen haben, Verbindungen wiederhergestellt und letztlich zur Versöhnung beigetragen haben. Marcel Reich-Ranicki, der berühmte Literaturkritiker, war so ein Mensch. Vor kurzem wurde seine Lebensgeschichte verfilmt zum wiederholten Male im Fernsehen ausgestrahlt. Er hielt eisern daran fest, dass über die deutsche Sprache und Literatur, wieder Brücken geschlagen werden können zwischen den Opfern und den Tätern, zwischen den Verfolgten und Verfolgern. Sehr eindrucksvoll zeigt seine Lebensgeschichte, wie die Worte seiner Mutter in ihm zeitlebens nachklingen: „Vergiss nicht, es ist das Land der Kultur.“ Bei aller Bitternis über das durch Deutsche zugefügte Leid, hat er die deutsche Sprache weiter verwendet, um in und mit ihr sich auch für Versöhnung zwischen den Tätern und Opfern einzusetzen.
Ein anderer sprachgewaltiger Mensch hat dies auch getan. Shalom ben Chorin, der im Alter von 22 Jahren im Jahr 1935, nachdem er von Nazis in München brutal misshandelt wurde, Deutschland verlässt und nach Jerusalem auswandert, schreibt sein inzwischen vertontes und in vielen evangelischen Gesangbüchern abgedrucktes Gedicht „Das Zeichen“ im Jahr 1942:

Freunde, das der Mandelzweig wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?
Dass das Leben nicht verging, so viel Blut auch schreit,
achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit.
Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winde weht.
Freunde, dass der Mandelzweig sich in Blüten wiegt,
bleibe uns ein Fingerzeig, wie das Leben siegt.


Hoffnungsvolle Geschichten, dass nach dem Verstummen die Sprache wiedergefunden wird. Und dass mit der wiedergefundenen Sprache – gleich ob von Juden oder Christen –das Evangelium weitergegeben wird: dass Gott ein Gott des Lebens ist und bleibt.
Amen.

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